Heute war es wieder soweit: Betriebsversammlung bei der EnergieintensiverMittelständler GmbH. Thomas hatte heute sein “Fuck you, Greta”-Shirt angezogen und sich früh einen Platz in der ersten Reihe gesichert. Aylin hatte ihr Notizbuch mit den Pride-Stickern und der feministischen Kampf-Faust auf den Stuhl neben Thomas gelegt. Endlich sollte es losgehen. Petra, die Betriebsratsvorsitzende, eröffnete wie immer mit ihrem Lagebericht, untermalt von Comic Sans und mit einer Art Dia-Show. Sie erzählte von den Bemühungen der 4-Tage-Woche, die “immerhin in der Buchhaltung” nun in die Umsetzung käme, vom neuen Gesundheitsschutzkonzept im Lager und vom neuen Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter-Programm. Schwungvoll kam jetzt auch der Seniorchef in den unbeheizten Besprechungsraum und knallte seine Kaffeetasse mit Aufdruck “Steuern sind Raub” aufs Pult. Es folgte der vierteljährliche Lobbybericht. Mit nur fünf Folien legte er dar, welche Aktivitäten zu welchem Abstimmungsverhalten entsprechender Mandatsträger geführt hätten. Und wie sich das letzten Endes auch auf die Ausgestaltung der Politik- und Förderlandschaft des Klima- und Transformationsfonds auswirke. Ludger aus der Unternehmenskommunikation übernahm eilig das Mikro, faselte etwas von noch nicht untersuchten Korrelationen und leitete die beliebte Abstimmung unter der Belegschaft ein: “An welche Organisationen wollen wir dieses Jahr spenden?”. Die nun folgenden Diskussionen dauerten bis tief in die Nacht, unterbrochen nur von dringenden Kundenanrufen. Die Unterschriftenlisten und Flyerstapel durften anschließend wieder 14 Tage liegenbleiben und der Duft des Aufbruchs wehte durch die Hallen.
Kann man heutzutage unpolitisch sein?
Momentchen, so lustig ist das alles ja gar nicht. Wir leben in einer Zeit der sich stapelnden Krisen und der aufgetürmten Problemberge. Überall ist jemand persönlich von Politik betroffen: Ob die Bahn wieder nicht fährt oder Fördergelder auslaufen. Ob der Kitaplatz fehlt oder die Pflegekraft für Vater. Ob der Hauskredit steigt oder die Miete. Und (nicht erst) jetzt ist auch noch die Demokratie in Gefahr. Es sind solche Kipppunkte, die es schwierig machen, sich zu enthalten. Gegen Intoleranz, Hass, Spaltung und Fake News helfen Schweigen und Aussitzen halt leider nicht. Und “einfach neutral bleiben” kann sich auch nicht jede*r leisten. Also sollten wir uns zu Wort melden, oder? Und falls ja, wie und wann?
Auch Unternehmen stehen heute unter Positionierungs-Druck.
Dazu passt auch der Trend zur “Purpose Economy“, also dem zweckorientierten Wirtschaften gemäß eines höheren Sinns – in der Regel im Dreiklang Umwelt, Soziales & Wirtschaftlichkeit. Unternehmen stehen heute stärker unter Zugzwang, ihre Zweckorientierung immer wieder neu zu beweisen. Das Edelman Trust Barometer, eine jährliche Umfrage in 28 Ländern, zeigte 2023: Die hierzulande Befragten haben einen klaren Auftrag an die Wirtschaft und Unternehmer:innen, ihr gesellschaftliches Engagement zu verstärken und der gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken.
Wer sich durch die eigene SocialMedia-Blase bewegt, kennt es vielleicht: Die eigene Echokammer polarisiert gewaltig. Andere Haltungen werden nicht unbedingt genutzt, um etwas besser zu verstehen, sondern eher reflexhaft abgewertet. Wie kann man nur dagegen sein! Wie kann man nur dafür sein! Kopfschüttel, also echt! Grundsätzlich kann man sicher sagen: Positionierung führt zu Polarisierung. Und letztere entzweit die Menschen, statt sie zu verbinden. Sie macht die Menschen aber auch sensibler und in gewisser Weise scharfsinniger. Auch (zukünftige) Kundinnen und Mitarbeiter schauen genauer hin, wie sich Unternehmen öffentlich positionieren.
Ist das noch “Stellung beziehen” oder schon politisches “Green-Washing?”
Von [Hier eine Farbe einsetzen]-Washing sprechen wir, wenn Organisationen ein positives Image vermitteln wollen, indem sie sich mit politischen oder sozialen Anliegen verbinden – ohne wirklich wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die auf diese Anliegen einzahlen. Es geht also um einen Widerspruch zwischen Schein und Sein, zwischen “außen” und “innen”. Aber wer kann das beurteilen? Die Übergänge sind fließend und vieles ist subjektiv und weder von außen noch für alle Mitarbeiter komplett ersichtlich.
Es kann 1000 Gründe geben, warum eine Organisation einer politischen Forderung nur zaghaft beipflichtet, statt tatkräftig in die Umsetzung zu gehen: Vielleicht ist die Komplexität zu groß und der organisatorische Rattenschwanz gar nicht so einfach zu bewältigen. Vielleicht sind die Folgekosten zu hoch, etwa weil sich die halbe Lieferkette ändern muss. Vielleicht sind sich die Verantwortlichen auch gar nicht des kommunikativen Widerspruchs bewusst, etwa wenn zum Frauentag etwas gepostet wird, aber intern die oberen Führungsebenen nur aus Männern bestehen. Vielleicht wird auch längst ein Pilotprojekt ausprobiert, ohne dass es groß jemand mitbekommt.
Der Verdacht, alles sei nur Show, ist schnell da. Dabei können wir nicht immer sicher wissen, welche Motivation nun tatsächlich dahintersteckt, wenn sich “eine Organisation” beziehungsweise ein CEO öffentlich für oder gegen etwas ausspricht – vor allem, wenn es nicht unmittelbar mit dem Geschäftsmodell zu tun hat.
Was sind denn alles “politische Handlungen”?
Für Unternehmen sind das zum Beispiel
- die Beteiligung an offenen Briefen, wie erst kürzlich die Forderung nach dem klimaneutralen Umbau von circa 50 Unternehmen
- der LinkedIn-Post von CEOs zu aktuellen politischen Debatten
- Statements & Stellungnahmen in Medien
- Lobbyarbeit & Spenden
- mit wem Kooperationen und Partnerschaften eingegangen werden oder wer z.B. Sponsor von Veranstaltungen ist
- Geschäftspraktiken & Lieferkette (man denke an Vaude und Patagonia – oder aber an Apple und Foxconn oder Nestlé)
- der interne Umgang miteinander, also die von außen sichtbare Bühne der Unternehmenskultur (z.B. durch besondere Regeln)
Politische Haltung lässt sich aber auch im Arbeitsalltag bei Einzelnen beobachten und kommt auch hier ziemlich vielfältig daher. Es schließt zum Beispiel ein
- das Tragen von Symbolen
- eigene Meinungen äußern
- das eigene Profilbild in SocialMedia Plattformen einfärben oder mit Banner ausstatten
- zu Wahlen, Petitionen oder anderen Handlungen aufrufen
- Unterschriftenlisten auslegen
- Plakate, Flyer, Aufrufe verteilen
- sich privat engagieren und darüber im Job erzählen
- sich weigern, auf z.B. diskriminierende Sprache zu verzichten, weil man “nichts mehr sagen darf”
Ich habe mal gelernt: Halt dich im Beruf mit deiner politischen Haltung zurück, das gibt nur Ärger.
In den letzten Jahren habe ich mehrmals bei meinen Kunden miterlebt, wie schwierig unterschiedliche private Haltungen den Arbeitsalltag machen können, wenn sie einmal aus der Kiste gekommen sind. Da konnte der Kollege mit russischem Hintergrund nicht am gleichen Montagetisch wie der Ukrainer arbeiten, zu aufgeheizt war die Stimmung. Ein anderes Unternehmen hatte eine strenge Covid-Policy – sie hätten sonst nicht nur kurzzeitig die Produktion gefährdet. Impfgegner*innen haben das Unternehmen verlassen. Da war die türkische Mitarbeiterin einer sozialen Einrichtung, die offen mit Erdogan sympathisierte. Solches Wissen über die Chefin oder den Kollegen teilt die Welt schnell in ein “davor” und “danach”: Puh, das hätte ich von der jetzt nicht gedacht. Wir können das dann nicht mehr rückgängig machen, müssen jetzt damit umgehen, wenn wir weiter konstruktiv zusammenarbeiten wollen. Aber heißt das im Umkehrschluss, lieber die Augen und Ohren zuhalten? Weil mich die Einstellung des Anderen und ihn meine “nichts angeht”?
Spaltung führt zu Vertrauensverlust, aber Vertrauen ist DIE Basis für eine intensive und gleichzeitig unbürokratische Zusammenarbeit. Mit jeder politischen Diskussion riskiere ich, dass wir uns durch Schubladendenken beziehungsweise der Spaltung in Lager voneinander entfernen. Oder ist es umgekehrt? Mit jeder politischen Diskussion habe ich die Chance, meine Kolleg*innen noch besser kennenzulernen.
Ab wann wird’s übergriffig?
Es ist dein und mein gutes Recht, einen Teil der eigenen Persönlichkeit im Privaten zu lassen, um die berufliche Rolle auszuüben. Forderungen nach Authentizität (“Bring your whole self, baby!”) sind schnell übergriffig und vermutlich in den wenigsten Fällen notwendig, um gemeinsam einen guten Job zu machen.
In der Regel kommt noch eine Hierarchie hinzu und damit auch ein Machtgefälle: Wer fordert denn von wem, sich mit Haut und Haaren einzubringen? Und für wen ist es im Zweifel ungefährlich, das zu tun? Wer hat in welchen Fällen eine Deutungsmacht, was hier in der Organisation gerade “gut” oder “schlecht” ist? Wer hat eher Nachteile zu befürchten, wenn er/sie eine abweichende Meinung äußert? Oder missverstanden wird?
Auch (arbeits-)rechtlich sind Grenzen gesetzt.
Neben dem Artikel 1 im Grundgesetz regelt das BGB beispielsweise die Leistungserbringung “nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“. Das Betriebsverfassungsgesetz bringt dann noch den Begriff des “Betriebsfriedens” mit ein: In § 74 heißt es etwa “Arbeitgeber und Betriebsrat haben Betätigungen zu unterlassen, durch die der Arbeitsablauf oder der Frieden des Betriebs beeinträchtigt werden. Sie haben jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen; die Behandlung von Angelegenheiten tarifpolitischer, sozialpolitischer, umweltpolitischer und wirtschaftlicher Art, die den Betrieb oder seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen, wird hierdurch nicht berührt.”. Und § 104 regelt sogar die Möglichkeit der “Entfernung betriebsstörender Arbeitnehmer”. Und da ist da natürlich noch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz: Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmer haben darauf zu achten, dass Beschäftigte nicht aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden (§ 7 Abs. 1 AGG).
Für die Praxis heißt das:
- Als Arbeitnehmer, Kunde oder Dienstleisterin darfst du deine politische Meinung soweit äußern, wie sie niemanden diskriminiert oder beleidigt – und nicht (z.B. durch Streit anzetteln) den Betriebsfrieden stört.
- Die Arbeit hat Vorrang – sie niederzulegen, weil du dringend eine Brandrede halten musst, wäre also nicht okay.
- Als Angestellter darfst du nicht einfach so dienstliche Mittel für deine politischen Ziele nutzen (z.B. vom Mailserver Massenaufrufe verschicken oder den Lieferwagen beflaggen).
- Arbeitgeber und Betriebsrat dürfen sich nicht für oder gegen eine politische Partei politisch betätigen – also weder Flyer verteilen noch, wie die BöttcherAG gerade, suggestive Abstimmungen einleiten.
Sollen wir uns äußern oder nicht? Kleiner Leitfaden für die externe Kommunikation
Wir haben eingangs bei der Böttcher AG gesehen, wie es nicht geht. Und auch abseits solcher kommunikativer Fails ist die Frage, ob “Haltung zeigen” gerade eine gute Idee ist, keine triviale. Schließlich geht es darum, die externen und internen Reaktionen zu antizipieren, um Missverständnissen vorzubeugen und Schaden abzuwenden.
Hier sind ein paar Fragen, die sich Verantwortliche stellen können, bevor sie sich öffentlich zu Wort melden:
- Warum will ich mich äußern? Möchte ich meine Unternehmenswerte unterstreichen? Mich für oder gegen etwas aussprechen? Mich als Person profilieren? Habe ich Bewerber*innen oder Kundengruppen im Blick? Gibt es Druck, mich zu positionieren, um als Organisation glaubwürdig zu bleiben?
Die Gründe können sehr verschieden sein! - Spiegeln die geplanten Äußerungen die Werte des Unternehmens wider? Passt das zu dem, wie wir sonst agieren? Bin ich bereit, mich mit anderen abzustimmen und eine gemeinsame Haltung zu finden?
- Welcher Kanal ist der Richtige dafür? Gibt es genug Platz für den Kontext? Welches Publikum ist da?
- Welche Form, welcher Ton ist passend? Text, Bild? Zitierte Aussagen anderer? Selfies von einem Treffen oder einer Veranstaltung?
- Habe ich, haben wir die Ressourcen für den Rattenschwanz, den das vielleicht nach sich zieht? Wollen und können wir z.B. Kommentare dazu beantworten? Wie gehen wir damit um, wenn wir ab jetzt immer wieder nach unserer Meinung zu aktuellen Themen gefragt werden?
- Haben wir flotte Prozesse für den Fall von Shitstorms oder auch nur kurzfristigen Anfragen?
Soll ich mit Kolleginnen oder Kunden über politische Themen reden? Leitfragen für dich persönlich
- Interessiert mich, welche politische Einstellung mein Gegenüber hat? Wenn ja, warum? Will ich ihn/sie besser kennenlernen? Will ich verstehen, wie jemand tickt? Will ich mich selbst vergewissern, auf “der richtigen Seite” zu stehen? Will ich mir im Dialog eine Meinung bilden?
- Spüre ich einen Drang, mich zu Wort zu melden, zum Beispiel als Zivilcourage? Habe ich etwas beobachtet, das ich als diskriminierend wahrnehme (z.B. Rassismus, Sexismus etc.)? Will ich mich dafür einsetzen, dass so etwas in meinem Umfeld nicht zum Alltag gehört?
- Fühle ich mich andersherum in meiner (Meinungs-)Freiheit eingeschränkt, weil ich meine, bestimmte Dinge nicht mehr sagen zu dürfen? Möchte ich das zum Ausdruck bringen und wenn ja, wieso?
- Möchte ich andere von meiner politischen Haltung überzeugen? Wenn ja, wieso?
- Wie sehr mag ich die Person? Würde es etwas an meiner oder ihrer Sympathie ändern, wenn wir zu dieser politischen Frage Meinungen austauschen?
- Steht die Person mit ihrer Haltung möglicherweise alleine da? Wenn ja, spreche ich sie dann unter 4 Augen an?
- Kann es für die Person irgendwie anderweitig heikel sein, wenn ich sie dazu bringe, sich zu einem politischen Thema zu positionieren?
- Glaube ich, mit der Person genauso gut weiterarbeiten zu können wie zuvor, wenn sich herausstellt, dass sie mit ihrer politischen Meinung sehr weit weg von meiner ist? Bin ich mir wirklich sicher? 😉
- Was wäre, wenn sie extremistische Ansichten hat? Würde ich es versuchen zu ignorieren, würde ich es jemandem melden, würde ich sie versuchen zu bekehren?
Welche Erfahrungen hast du gemacht?
Und wie ist deine Haltung dazu? Lebst du deine politische Haltung auch bei der Arbeit, oder klammerst du sie aus? Und was sind Fragen, die du dir stellst, bevor du mit Kolleg*innen über politische Themen sprichst? Wie immer freue ich mich über Kommentare!