Thorsten war erleichtert. 2 Jahre lang hat er gemeinsam mit Tülay und Frau Klughans aus dem Service immer wieder versucht, seine Vorgesetzten für Bürokratieabbau zu begeistern. Und nun kam endlich das entscheidende Signal aus dem Management: Wir sagen der Verschwendung den Kampf an! Ab heute werden Abläufe radikal vereinfacht! Mit wachsender Begeisterung las Thorsten die Mail der Geschäftsführung: Man habe ein 12köpfiges KVP-Team aufgesetzt. Habe sich einen strikten Zeitplan auferlegt, der vom Project Management Office (4 Leute) detailliert getrackt werde. Nun brauche man die Mithilfe der ganzen Belegschaft, indem bitte in jedem Team die dreißig wichtigsten Prozesse dokumentiert und gemessen werden. Wichtig sei zunächst die Vorher-Messung, damit die Einsparpotenziale erhoben werden können. Für den nächsten Schritt habe das Team der Personalentwicklung ein klasse Training auf die Beine gestellt, in dem man in nur 4 Stunden lerne, das Richtige zu dokumentieren und mit dem Prozessvisualisierungsprogramm umzugehen. Gemeinsam schaffe man es und so weiter.
Thorstens Begeisterung wich einem feinen, grauen Nebel in seinem Kopf. Ja, er wollte natürlich mithelfen, die Abläufe zu vereinfachen! Aber er hatte gerade jetzt mit seinem Vertriebs-Team einen Haufen Arbeit, alle waren sie komplett landunter. Manuela wusste jetzt schon nicht mehr wohin mit ihren Überstunden. Doch das konnte man nicht sagen, denn die Überstunden hatten ja irgendwie auch mit den umständlichen Abläufen zu tun. Wer jetzt nicht mitmacht, macht sich verdächtig wie der vielzitierte Holzfäller, der aus Zeitgründen seine stumpfe Säge nicht schärfen wollte.
Problem #1: Der Wunsch nach Ursache-Wirkungs-Steuerung führt geradewegs ins Dilemma der Kontrollillusion.
Zoomen wir mal heraus – was passiert hier? Das Management möchte die Verbesserungsarbeit in die Breite geben und hat sich auch schon über das “WIE” Gedanken gemacht: Man erhofft sich durch eine standardisierte Methodik, die Vereinfachungspotenziale schnell beziffern zu können. Dafür muss man ein Ist ermitteln, bevor man sich an die Verbesserungsarbeit macht. Der Gedanke dahinter: Es gibt ein Ist und ein Soll. Dazwischen liegt das verschwendete Geld. Wenn man den Verbesserungsprozess gut managt, werden ruckzuck Potenziale gehoben und man kann dadurch an anderer Stelle wieder mehr investieren.
Über eine solche Rechnung dürften sich – je nach Organisationsform – Aktionäre, Eigentümerinnen oder Steuerzahler freuen. Nur: Wer das so steuert, verursacht wiederum Aufwand in nicht unerheblichem Ausmaß. Die Ressourcen, die es braucht, um alles zu messen und zu dokumentieren, werden in der Regel unterschätzt. Streng genommen müsste man den Aufwand fürs Managen der Verbesserung genauso messen und dokumentieren, aber was dann? Würde man mit dem Programm aufhören, wenn der Aufwand den Nutzen zu übersteigen droht? Oder würde man versuchen, stärker zu priorisieren – was wiederum am besten geht, wenn man den erwartbaren Nutzen schon einschätzen kann? Hier geht das Dilemma los: Entweder man will es auch hier genau wissen – und schafft damit noch mehr Aufwand. Oder man peilt über den Daumen – und managt damit das Ungefähre.
Problem #2: Es wird angenommen, dass es zum Ziel führt, es arbeitsteilig zu organisieren.
Die Optimierungsaufgabe wird in jedes Team gegeben, weil man ja in der Breite an die Einsparungen kommen will. Dadurch beschäftigen sich jetzt auch diejenigen mit ihren Prozessdokumentationen, die wenig Spielraum für Verbesserungen haben. Der Aufwand wird dort nicht im Ansatz den zu erwartenden Einsparungen gerecht. Weil der Dokumentationsaufwand aber hoch ist, kommt niemand auf die Idee, nach übergreifend nervigen Arbeitsabläufen zu suchen und diese gemeinsam zu verbessern – jede*r arbeitet nur an den eigenen Abläufen. Gut möglich, dass die großen Hebel auf diese Weise gar nicht gefunden werden.
Problem #3: Es wird mit Phantasieschätzungen gearbeitet, die dann verbindliche Gültigkeit bekommen.
Zurück zum völlig überlasteten Thorsten. Dem kommt jetzt eine geniale Idee: Er setzt den Praktikanten dran. Die anderen sollen ihm grob zuwerfen, wie die Abläufe sind, er dokumentiert das dann. Die Leute peilen, wie oben beschrieben, über den Daumen (und auch das hält schon ziemlich auf) und nach 4 Wochen weiß man: Alles dauert irgendwie lange. Thorsten guckt fühlt nochmal drauf drüber, und da es ihm zu wenig Verbesserungspotenzial scheint, schlägt er noch 10% drauf und schätzt grob, wie viel weniger Aufwand die optimierten Abläufe bedeuten würden. Das machen die anderen Teams alle ähnlich – heraus kommt ein riesiges Potenzial an Einsparungen. Die Geschäftsführung bekommt nun abwechselnd Dollarzeichen und Pipi in den Augen ob der immensen Möglichkeiten. Deshalb wird das Projekt ganz nach oben priorisiert. Die Erwartungen sind klar: Die neu aufzustellenden Prozesse müssen weniger Aufwand erzeugen als die bisherigen Abläufe. Tritt das nicht ein, ist der Einsatz zu erhöhen (denn die Einsparpotenziale wurden den Kapitalgebern längst kommuniziert).
Problem #4: Der Aufwand orientiert sich nicht mehr am Zweck, sondern wird zum Selbstzweck.
Damit haben wir ein Folgeproblem geschaffen: Durch die klare Output-Erwartung, die arbeitsteilige Suche nach Verbesserungspotenzial und die Arbeit mit festen Prognosen beschäftigen sich nun alle mit Prozessoptimierung – völlig unerheblich, ob es den Kunden hilft oder sich wirklich lohnt. Frust und Zynismus sind die Folge, andere wichtige Themen bleiben liegen. Die Organisation beschäftigt sich nun mit sich selbst. Je nach Management-Stil kommt es sogar noch schlimmer: Man darf nicht mehr laut über dysfunktionale Abläufe klagen, denn man habe sich möglicherweise noch nicht genug reingehangen bei der großen Optimierungswelle… Wenn das passiert, landet die Organisation direkt in der Zynismus-Falle: Ein neues Tabu ist geboren.
Und das gilt bei weitem nicht nur für Prozessoptimierungs-Themen.
So ein KVP-Projekt ist nur ein besonders illustratives Beispiel, weil es ja genau darum geht, Verschwendung zu reduzieren – und sie mit der falschen Herangehensweise erst schafft. Schauen wir uns andere Themenfelder in Organisationen an, können wir die Muster der Kontrollillusion beobachten:
- Trainingsprogramme, die ohne Einbezug der Nutzer entwickelt werden, sich ergo nicht am Nutzen orientieren und bei denen stattdessen entweder Happiness (Feedbackbögen) oder erwünschtes Verhalten (Bewertungen) dokumentiert wird
- Werte- und Leitbildprozesse, die zwar unter Einbezug vieler Menschen erarbeitet werden – die dann aber so austauschbar und generisch geraten, dass man sie auch weglassen kann. Oder dass irgendwer anschließend lange operationalisieren muss, woran man denn die Werte im Alltag festmacht – um diese Veränderungen anschließend mit 360 Feedback messen zu können.
- vermeintliche Entlastungs-Hacks wie “Wir stellen den Mailserver ab 20:00 Uhr ab” – bei denen die Entscheider*innen nicht merken (wollen), mit welchen Workarounds diese Regelung nun kreativ umgangen wird
- Vertriebsinitiativen mit Audit-Charakter, bei denen anschließend nicht der Kunde, sondern zum Beispiel ein Testkäufer zählt
- Befragungsprojekte, die so designt sind, dass sie die eigentlichen Kommunikationsprobleme noch stabilisieren – indem es zum Beispiel drölfzig Berichtsebenen gibt, um dann mit den anonymisierten Daten in 84 Workshops weiter zu arbeiten
Das sind nur einige Beispiele. Sie alle haben gemeinsam, dass jemand ganz stark das Gefühl hat, etwas im Griff zu haben . Und damit der Kontrollillusion unterliegt. Kommt jetzt noch eine starke Hierarchisierung dazu, wird es unwahrscheinlicher, dass jemand die ganzen ungewollten Nebenwirkungen offen benennt. Willkommen in der Zynismusspirale.
Was man stattdessen machen kann:
- sich konsequent am Nutzer und dessen Outcome orientieren: Wer soll denn die Entlastung wie spüren? Wer will mit dem Training was erreichen? Was versprechen wir uns von gemeinsamen Werten und woran wollen wir festmachen, dass das dann auch eingetreten ist?
- sich den Spannungen bewusst werden, die jede Organisation aushalten muss (zB Vertrauen versus Kontrolle) – diese Spannungen notieren und bei jeder Intervention nach möglichen Nebenwirkungen fragen
- übergreifend an Problemen arbeiten statt Querschnittsthemen einfach in jeden Bereich runterzubrechen (zB die größten Nerv-Prozesse aus der Spannungsliste abarbeiten und das in OKRs festlegen)
- aufhören, Verbesserungen kontrollieren zu wollen – und stattdessen als fortlaufenden Bestandteil der Arbeit organisieren
- iterativ an größere Themen rangehen und auch so messen – zB statt verpflichtender Trainingsprogramme für alle lieber freiwillige, niedrigschwellige Angebote machen & das Interesse messen
Zusammenfassend könnte man sagen: Wenn es ein Gegenmittel für die Kontrollillusion gibt, dann ist es das Einbeziehen verschiedener Perspektiven bei der Suche nach Lösungen für ein Problem.
Wo hast du schon einmal Kontrollillusionen beobachtet? Schreib mir gern einen Kommentar!