Es gibt Dinge, auf die kann man sich nicht vorbereiten. Und egal wie oft wir im agilen Manifest nachlesen, dass wir “Anforderungsänderungen auch spät willkommen heißen” sollen – es kann uns ganz schön herausfordern, flexibel zu reagieren. Wer gemeinsam mit Anderen wirksame Lösungen für Kunden entwickeln möchte, weiß was es bedeutet, das eigene Ego zurückzustellen. Sich auf die Ideen der anderen einzulassen. Eigene Ideen einzubringen und sie auch wieder loszulassen, wenn es sein muss. Welcome to uncertainty! Diesen Umgang mit dem Ungewohnten zu lernen, ist lange, harte Arbeit – oder? Nicht zwingend! Wir können all das auch spielerisch und mit Spaß trainieren, wenn wir uns die Angewandte Improvisation mit ihren Prinzipien zu Nutze machen. Denn was Impro-Theater-Ensembles, Bands oder Künstler*innen-Kollektive tun, lässt sich wunderbar auch in anderen Kontexten nutzen.
Angewandte Improvisation überträgt Prinzipien aus dem Impro-Theater und anderen Kunstformen auf die Welt abseits der Bühne.
Schauen wir uns ein Impro-Theater-Ensemble an, das spontan Szenen auf Zuruf entwickelt. Dass das wirklich klappt, die Spieler*innen miteinander im Flow sind und eine spannende Geschichte entsteht, ist kein Zufall. Denn die Teams arbeiten nach bestimmten Prinzipien:
- Fokus auf dem Hier & Jetzt
Das klingt beim Lesen sicher trivial, ist aber DIE Grundlage: Präsenz und Achtsamkeit für den Moment. Mit verschiedenen Aufwärmübungen wird genau das erst einmal hergestellt. Das gilt fürs Ensemble genauso wie für die Angewandte Improvisation in Trainings und Workshops. - Sag “Yes, and”
Stell dir vor du sitzt im Publikum und siehst, wie Daoud das Gesicht verzerrt und murmelt “Nee Silke… äh… ich bin doch der Beifahrer…”. Impro-Teams sagen bewusst “Ja, und…” statt “Ja, aber…” – sie bauen wahrhaftig auf den Ideen der anderen Spieler auf. - Den Anderen gut aussehen lassen
Dieses Prinzip knüpft direkt an das vorherige an: Als Mitglied eines Impro-Ensembles ist es mein Job, etwaige Patzer der Anderen zu überspielen, damit die Geschichte weitergeht. Ich lasse also niemanden auflaufen, sondern spinne den Faden elegant weiter. Das lässt sich auch auf die Zusammenarbeit in anderen Teams übertragen, wo es nicht um Einzelleistung, sondern um gemeinsame Kundenlösungen geht. - Risiken eingehen
Damit in einem improvisierten Stück etwas passiert, muss sich jemand was trauen. Zum Beispiel die versaute Assoziation rauslassen, bevor der “Was denken dann gleich alle über mich”-Gedanke Raum bekommt. Das hat eine Menge mit psychologischer Sicherheit zu tun – und die können wir mittels Angewandter Improvisation gezielt stärken. - Heiter scheitern
Im Impro gehen ständig Dinge schief – vor Publikum liegt darin der gewisse Reiz. Wenn wir mit Angewandter Improvisation üben, passieren auch immer wieder Patzer, die uns zum Lachen bringen. Und dann? Probieren wir es gleich noch einmal. So lässt sich positive Fehlerkultur direkt erleben, statt nur darüber zu reden.
Angewandte Improvisation experimentiert mit Situationen – und reflektiert diese
Bei der “Applied”-Variante steht nicht mehr die spannende oder lustige Geschichte allein im Vordergrund: Wir wollen die Prinzipien ja auf andere Herausforderungen anwenden. Geht es beispielsweise um Team-Dynamiken, probieren wir verschiedene Situationen aus und leiten anschließend ab, welche Mechanismen hier am Werke waren und wie Alternativen ausgesehen hätten. Diese probieren wir dann ebenfalls praktisch aus, arbeiten uns also iterativ an Lösungen heran. Dieses Vorgehen verankert Lernerfolge emotional statt nur kognitiv, denn was man schonmal erlebt hat, setzt sich ganz anders fest. Das funktioniert mit vielen Themenfeldern: Wir können erleben, wie Macht in sozialen Systemen entsteht. Können ausprobieren, welcher Kommunikationsstil welche Auswirkungen hat. Wie unsere Körpersprache unseren Status verändert. Wie es sich anfühlt, wenn unser Gegenüber die Augenhöhe verlässt oder eine Idee blockiert.
Angewandte Improvisation heißt nicht, Leute auf die Bühne zu zerren
Manch eine*r denkt jetzt vielleicht: Brauche ich dafür Rampensau-Qualitäten? Kann ich als introvertierte Person überhaupt davon profitieren? Und was ist, wenn ich erstmal beobachten und abwarten möchte, ist das dann erlaubt? Mit diesen berechtigten Fragen bin ich als Applied Improv Facilitator häufig im Vorfeld konfrontiert. Um mit dem Applied-Ansatz zu arbeiten, ist eines ganz wichtig: Freiwilligkeit. Ich kann niemanden zwingen, sich in irgendeiner Weise zu exponieren – das wäre übergriffig und nicht hilfreich. Wer erstmal nur schauen mag, der schaut eben – auch daraus nimmt man ja einiges mit! Daraus – in Kombination mit Kleingruppenarbeit – entsteht im Training ein “Safe Space”, indem man sich gern ausprobiert.
Diesen fröhlichen Safe Space können wir überall dort gebrauchen, wo miteinander Neues entstehen soll. So zum Beispiel beim Agile BarCamp+ im Juni 2022 in Münster, wo ich gemeinsam mit Lars im eröffnenden Impulsvortrag zeigen konnte, wie schnell so eine humorvolle Kultur entstehen kann. Wenige Aufwärmübungen und Mikro-Improv-Spiele später waren die Teilgeber*innen energiegeladen und voller Lust, ihre Ideen einzubringen.
Angewandte Improvisation hilft sogar in Krisensituationen
Aus der Embodiment-Forschung wissen wir, dass nicht nur unser seelisches Befinden auf den Körper Auswirkungen hat, sondern auch andersherum ein Schuh daraus wird: Nehmen wir bestimmte Körperhaltungen ein, wirkt das auf unsere Psyche zurück. Noch stärker ist der Effekt, wenn wir für einen Moment in andere Situationen schlüpfen und unser autonomes Nervensystem dabei positiv aktivieren. Während wir im Krisenmodus an die eigene Kreativität gar nicht drankommen, werden plötzlich im Spiel Ressourcen aktiviert. Das stärkt uns dauerhaft – auch für die größeren Herausforderungen.
Angewandte Improvisation ersetzt nicht die Arbeit am System
Die Methode setzt da an, wo Menschen sich miteinander auf Neues einlassen wollen und können. Stellt sich heraus, dass ein Team eigentlich gar kein Team ist und beispielsweise Einzelne miteinander in Konkurrenz stehen, kann sie ihre Wirkung nicht entfalten. Schickt eine Führungskraft ein völlig überlastetes und an akuter Over-Managementitis leidendes Team ins Impro-Training, damit “die Leute mal wieder mit mehr Leichtigkeit Leistung bringen”, kann das sogar schaden: Wer mag schon mit einem Reparaturauftrag in die Werkstatt geschickt werden, obwohl er nicht kaputt ist? Auf dieser Basis ist freies Improvisieren sehr, sehr schwierig. Deshalb – ich wiederhole mich – ist Freiwilligkeit die halbe Miete. Und daher ist eine gute Klärung im Vorfeld essentiell.